E-Scooter in Tel Aviv – wozu Regeln, wenn es auch chaotisch geht

E-Scooter – das ist die Rettung unserer Städte: Mobilität, Individualität, aktiver Umweltschutz und die Anti-Co2-Waffe, um Mensch und Natur mit einem Akku zu retten.
E-Scooter – eine Gefahr für alle: Ein gefährliches, sinn-entfremdetes Gerät auf zwei Minirädern, das Chaos auf den Strassen verursacht und das Leben von Verkehrsteilnehmern wie ahnungslosen Passanten gefährdet.

Die Tretroller mit Batterie und E-Antrieb spalten die Gemüter. Und frisch heimgekehrt aus Tel Aviv, der heimlichen „Hauptstadt der E-Scooter“, habe ich dazu spezielle, eigene Erkenntnisse gewonnen. Deshalb zunächst das „allgemein Gültige“.

Faktor Mensch

Mal ehrlich: 100 Meter Autostau vor der Kreuzung, alle dicht an dicht, Außenspiegel an Außenspiegel, kein Fahrradweg, rechts ein leerer Bürgersteig und Sie mit E-Scooter am Ende des Staus – na, warten Sie da etwa im Stau, oder rollen Sie rechts weiter?
Und, kennen Sie das: zwischen Schule und Bushaltestelle eine schöne grüne Parkfläche, drumherum feine feste Kieswege bis rechts herum hin zum Bus. Doch zieht sich mitten durch den Park ein ausgetretener Trampelpfad, der führt vom Schultor schnurstracks geradeaus bis zum Bushalteschild – tja, folgen Sie da dem schönen Parkweg oder ergeben Sie sich dem Reiz der schnellen Abkürzung?

„Warum warten oder einen Umweg machen, wenn es doch schneller und direkter geht !“ Nur wer diese Konstante menschlichen Verhaltens stets im Hinterkopf hat, kann sich mit den vielen tausend E-Scooter halbwegs sicher arrangieren – so wie die Menschen in Tel Aviv.

Das Regelwerk von Tel Aviv

E-Scooter dürfen nur auf Radwegen rollen, die Fahrer tragen Helme und sollen nicht zu zweit fahren. Sie müssen 16 Jahre, bei gemieteten Rollern sogar 18 Jahre alt sein. Sie absolvieren einen Fahrkurs und überschreiten nicht die 25 km/h Maximalgeschwindigkeit. Dazu hohe Geldbußen oder gar der Entzug der Fahrerlaubnis bei Verstößen. Das israelische Regelwerk klingt wirklich gut und soll Sicherheit schaffen. So jedenfalls die Theorie (der übrigens auch der deutsche Verkehrsminister so gerne folgt).

Die Praxis

Nach vielen spannenden und erlebnisreichen Wochen im Straßenverkehr von Tel Aviv kenne ich nun einen Großteil der Praxis. Und diese orientiert sich streng an der oben zitierten Konstante menschlichen Verhaltens: „warum korrekt, wenns anders doch schneller geht“. Die Verkehrsregeln (also die Theorie) werden dabei von breiter Phantasie und Intuition der E-Scooter Fahrer geschluckt und zum geordneten Chaos gewandelt:

E-Scooter rollen auf Bürgersteigen und Straßen, denn es gibt kaum Radwege in Tel Aviv. 16 Jahre, 18 Jahre und viele sind jünger – wer will denn das auch überprüfen?! Zu zweit fahren ist cool, junge Pärchen lieben das. 40+ km/h statt 25 km/h schnell flitzen mit der Batterie, Autofahrer werden dann oft blass. Keine Lichter am Scooter, weder vorne noch hinten, macht nichts, einfach laut rufen. Fahren, wenn der Weg frei ist und nicht erst dann, wenn es Grün wird. Einbahnstrassen in beide Richtungen nutzen, logo, Hauptsache schnell. Und: E-Scooter taugen doch als Transporter – bepackt mit Kisten, Säcken, Tieren – für den Umzug beispielsweise?

Hauptsache „Überleben“

Das Schlechte dazu: alles ist leise oder ganz geräuschlos. Wenn man die schnellen Dinger von Tel Aviv dann in der Nacht nicht sieht, nicht hört und auf Bürgersteig wie auf der Überholspur auf der Strasse nicht erwartet, kann die plötzliche Begegnung zum Megaschreck oder zum Crash werden.

Im Zentrum der Stadt habe ich an nur einem Tag bei einem kleinen Fußmarsch und während einer Taxifahrt die Praxis der E-Scooter-Verkehrs mit dem Smartphone festgehalten – hier ein paar Eindrücke.

„Klar, es gibt hier viele Unfälle mit Verletzten und Toten – und es werden mehr werden, weil der E-Scooter bei jungen Menschen der Renner ist und hier bald weit über die jetzigen 10.000 von ihnen unterwegs sein werden,“ so das Bürgermeisterbüro von Tel Aviv. Doch es gäbe auch den anderen Killer: die Luftverschmutzung durch den Straßenverkehr. Deshalb soll in Zukunft 1/4 der Verkehrsbewegungen auf kleine Fahrzeuge wie E-Bikes und E-Scooter entfallen – allen Gefahren zum Trotz.

Deutsche gelebte „Praxisferne“

Schon mit 14 auf den E-Scooter, kein Fahrkurs, keine Helmpflicht, Fahrspaß auf dem Fahrradweg oder auch auf der Strasse. So wollen die deutschen Verkehrsexperten für die „Freiheit“ und für „sauberen Stadtverkehr“ so richtig Vollgas gegeben – nach ein paar Tagen Anschauungsunterricht in Tel-Aviv mag ich sagen: hätten die deutschen Experten doch auch hier vor Ort ein wenig Zeit verbracht.

Und über die weitere Praxisanweisungen muss man schon fast schmunzeln:
Richtungsänderungen beim „Bewegen des Elektrokleinstfahrzeuges „ soll per Handzeichen erfolgen. Aha, und wie denn das bitte? Schon mal einhändig das E-Ding gefahren, liebe Experten?
Auch „Freihändig zu fahren“ ist in Deutschland nicht erlaubt … sehr konsequent … nur, wie sollte man das denn mit den Minirädern überhaupt tun?

Zuguterletzt

E-Scooter fahren ist cool aber als Massenverkehrsmittel inmitten des Straßenverkehrs letztlich „saugefährlich“. Da hilft auch keine deutsche Regelwut.
Größere Verkehrsrisiken für eine gesündere Umwelt hinzunehmen („Lösung“ a’la Tel Aviv) ist also die aktuelle Realität. Die Bundesregierung sollte davor die Augen nicht verschliessen.
Am Ende helfen Umweltschutz UND Verkehsrteilnehmern nur diese zwei Maßnahmen: Radwege überall. Und E-Scooter und ihre Fahrer verkehrstechnisch und sicherheitstechnisch so behandeln, wie Mofas und deren Fahrer – dann wird es sicherer.