Journalistenarbeit in einer kriminalisierten Zivilgesellschaft
Auch Veysel Ok macht einmal Urlaub. Der Mann, der voriges Jahr den (nun wieder in Deutschland lebenden) WELT-Journalisten Deniz Yücel „befreit“ hat. Der Rechtsanwalt, der seit Jahren unermüdlich sieben Tage die Woche quer durch die Türkei reist, um Angeklagten, Verhafteten oder Verurteilten Türken ein rechtsstaatliches Verfahren und in der Verfassung garantiertes Recht zu sichern. Urlaubszeit – ein Stück persönliche Freiheit, die seit dieser Woche für den Menschenrechtsanwalt wohl noch mehr an Bedeutung gewonnen hat.
Jurist, Menschenrechtler, Kurde
Kurz vor seiner Abreise hatten wir uns in Istanbul getroffen und über das laufende Strafverfahren gegen ihn gesprochen. „Sieht nicht gut aus“, meinte der Menschenrechtsanwalt. „Aber was soll’s, ich habe mir nichts Widerrechtliches vorzuwerfen.“
Der kurdisch-stämmige Ok ist einer der prominentesten Anwälte des Landes. So verteidigt er u.a. den WELT-Reporter Deniz Yücel, den deutschen Grünen-Politiker Mehmet Kilic oder auch den bekannten türkischen Schriftstellers Ahmet Altan. Mitte des Jahres erhielt er den renommierten Thomas-Dehler-Preis für seinen Einsatz für die Menschenrechte.
Die eigene Freiheit für das Menschenrecht
Die türkische Staatsanwaltschaft sieht das anders und erhob Anklage gegen Veysel. Unter anderem, weil er die „Unabhängigkeit der türkischen Justiz“ in einem Interview angezweifelt habe. Nun wurde Veysel tatsächlich für schuldig befunden und zu fünf Monaten Haft auf Bewährung (mit einer Bewährungsfrist von 5 Jahren!) verurteilt. Wie lange er noch in Freiheit arbeiten und seine zahlreichen Mandanten verteidigen kann, bleibt ungewiß.
Viele dieser engagierten Menschen sind aus Sicht des türkischen Staates potentielle Gesetzesbrecher, Staatsfeinde oder Terroristen – so wie nun auch Veysel Ok: ein Experte und Kontaktgeber für mich als deutscher Journalist; ein verurteilter Gesetzesbrecher aus Sicht der türkischen Regierung.
Journalistisches Dilemma
In den letzten zwei Jahren hatte ich immer wieder mit Menschen aus der Gesellschaft zu tun, deren Tun oder deren Vergangenheit aus Sicht des Staates Erdogan kriminell, staatsfeindlich oder den Terror unterstützend sind: Journalisten der renommierten und einst regierungskritischen Zeitung Cumhurriyet, schon früh des Hochverrates verdächtigt; Mitglieder einer Kinderhilfsorganisation in Ankara, die sich auch für kurdische Minderjährige einsetzte; Lehrer und Professoren, die als Teil der Gülenbewegung nun als Terroristen oder Terrorunterstützer gelten; Mitarbeiter von Amnesty International oder internationalen Stiftungen, die wegen Terrorunterstützung gebrandmarkt oder angeklagt sind.
Hinsehen und Aufklären – Teil der persönlichen Unterstützung
Um unserem Auftrag als Journalisten eines öffentlich-rechtlichen Senders Deutschlands gerecht zu werden, werden wir weiter den Spagat zwischen türkischer „Mehrheitsgesellschaft“ und den anderen im Fokus der Strafverfolgung stehenden Teilen der Gesellschaft pflegen. Offen, klar und ohne Geheimnistuerei. Nur so ist auch die Türkei als Ganzes zu verstehen.
Mütter und Angehörige protestieren für ihre zur Zeit der türkischen Diktatur verschwundenen Kinder/Männer/Freunde –
Proteste verboten von Regierung Erdogan
Das Wissen und die Erfahrungen der Mitarbeiter dieser Organisationen haben unser Verständnis über die Türkei sehr verbessert. Viele sind nun jedoch unter Anklage, in Haft oder außer Landes – ausgestoßen aus der von der Erdogan-Partei AKP beherrschten Mehrheitsgesellschaft. Mit ihnen sind auch für uns viele Vertreter und die Erfahrungen der anderen, der liberaleren Türkei verschwunden.
Informations-Meeting des türkischen Innenministeriums zu Flüchtlingskrise und Flüchtlingspakt mit EU
Auch die Machtlosigkeit bleibt
Doch was ist mit den Informanten und Freunden am Abgrund? Also Menschen wie Veysel OK, die jeden Tag das Gefängnis fürchten müssen? „Es ist die Türkei, das Leben ist hier immer hart“, hat Veysel OK nach dem Urteil geschrieben. „Wir machen mit unserer Arbeit jetzt einfach weiter“.
Die Verteidiger der Menschenrechte bei der weiteren Arbeit mit Berichten zu begleiten und stützen, ist für einen Journalisten möglich und selbstverständlich.
Doch das persönliche Schicksal vor dem Abgrund … das bleibt für den Freund und die Mitstreiter hart wie ungewiß.