Katzen, die Herrscher Istanbuls

„ICH muss ein Gott sein!“

Es ist ein Sommer, in dem mir meine Nase jeden Morgen wieder beweist – sie sind hier – überall. Unter den ersten Sonnenstrahlen steigt die feuchte Bodenluft langsam und schwer nach oben. Und mit ihr dieser süsslich derbe und für einen Hundeliebhaber – wie mich – zumeist unangenehme Geruch der Morgentoilette all dieser tausenden scheuen Mitbewohner der Stadt: die Katzen von Istanbul.

Mein Hotel im Stadviertel Beyoglu-Pera hat einen dieser raren aber herrlichen grünen Vorgärten Istanbuls. Rosen, Oleander, Palmenbüsche, Olivenbäume – unter und auf ihnen raschelt es am Morgen ununterbrochen. Schmächtige, dünne aber hellwache Katzen pirschen oder klettern sich heran, schleichen um die Tische, springen auf die Stühle, versuchen vom Frühstück etwas abzubekommen oder zu stibitzen. Zumeist erfolgreich, inklusive einer großzügigen Streicheleinheit. Nicht einer der Gäste oder Hotelangestellten versucht einen der Vierbeiner zu verscheuchen – nein – sie füttern stattdessen die Tiere mit Resten von den Tellern der Gäste wenn sie allzu jammernd Miauen. Das dankbare Schnurren ist aber nur von kurzer Dauer, dann geht es auf den vier leisen Samtpfoten weiter zum nächsten Tisch und Teller.

Genau da fällt mir diese schöne kurze Anekdote ein:
Was ist der Unterschied zwischen Katze und Hund? Der Hund denkt: „Mein Herrchen füttert, pflegt und streichelt mich. Er muss ein Gott sein.“ Die Katze denkt: „Min Herrchen füttert, pflegt und streichelt mich. ICH muss ein Gott sein.“

Meine Abwehrversuche jeden Morgen im frühen Sonnenlicht lassen all die dutzend Katzen mit einem entsprechend abfälligen Blick abprallen. „Was will der denn – er wird es bestimmt auch noch lernen, uns zu dienen“.

Ja, die Katzen von Istanbul haben sich den einzigartigen Status als heimliche Herrscher und Seele der Stadt am Bosporus über Jahrhunderte „verdient“. Schon in der Blütezeit des Osmanischen Reiches wurden sie als Rattenfänger auf den Schiffen aus aller Welt und im Hafen des damaligen Konstantinopel gehalten. Weniger als Schmusekatzen, sondern als unabhängige halbwilde Straßenkatzen. Chaos, Kultur und Einzigartigkeit – das, was die Stadt ausmacht, dafür stehen sie symbolisch, glauben viele Einheimische.

Und die Liebe der Istanbuler zu den oft auch schläfrigen Streunern wird mir auf dem Weg zur Arbeit in Beyoglu-Cihangir oder abends zurück zum Hotel an jeder Ecke wieder gewahr. „Herrchen“, „Frauchen“, Ladenbesitzer und selbst die ärmsten Müllsammler rufen „ihr“ Kätzchen mit wisperndem Ton herbei und stellen einen Napf mit Milch, Wasser oder Trockenfutter vor die schnurrenden Vierbeiner. Andere locken die Katzen mit Leber, frischem Fisch oder auch Fleisch. An wirklich jeder Ecke stehen Futter und Leckereien. Dazu haben besondere Tierliebhaber extra überdachte Schlafplätze oder ganze Holzhütten geschaffen, damit „Gott“ oder „Göttin“ keinen Tropfen Regenwasser oder die feuchte Kälte des Winters erleiden müssen.

Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wenn das Strassenkätzchen es denn zulässt, spielen Kinder und Erwachsen mit den Vierbeinern, streicheln und liebksoen sie – das Schnurren der Verwöhnten ist dabei fast meterweit zu hören.

Von fett oder gut genährt bis über dünn und knochig reicht die Palette der quer durch alle Rassen gekreuzten Strassenkatzen. Viele der weit über hunderttausend Exemplare in der Istanbuler Stadt sind aber auch krank, verkrüppelt oder ohne jedes Zuhause. Mit ihnen gehen dann Einheimische zur Stadt, die diese kostenlos behandeln. Zumeist wird dann zusätzlich geimpft oder auch kastriert, um die Population im Zaum zu halten. Mit einem Tierschutzgesetz aus dem Jahre 2004 hat sich die Stadt diese kostenlose Selbstverpflichtung auferlegt – auch Füttern gehört dazu. Tierärzte und Pfleger sind dafür im ständigen Einsatz.

Katzen und Menschen haben in Istanbul eine wirklich pragmatische Lösung füreinander gefunden. Die Streuner auf vier Pfoten leben ein freies, wenn auch oft hartes Leben ausserhalb der vier Wände des Menschen. Die Menschen füttern und streicheln sie, kümmern sich um mögliche Probleme und sind dankbar dafür. Dafür lassen sich die „Götter“ streicheln und kraulen und schnurren auch mal ganz lieb – denn „Götter“ müssen auch mal großzügig zu ihren Untertanen sein.